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«Wer hört uns zu, wenn wir uns selbst nicht zuhören?» – Rede von Mandy Abou Shoak

Am 14. und 15. Mai fand in Bern das erste Wochenende der feministischen Streikkollektive statt. Über 300 Teilnehmer_innen politisierten, tauschten sich aus, vernetzten sich und stimmten sich auf den feministischen Streik am 14. Juni ein. Das Wochenende organisiert hatten verschiedene Streikkollektive aus der ganzen Schweiz. Mandy Abou Shoak, Verantwortliche Bildung und Beratung bei Brava, hielt eine Rede zum Thema Solidarität.

Geschwister

Geschwister verbringen oft viel Zeit gemeinsam. Wir streiten uns, wir vertragen uns und manchmal aber auch nicht. Im Kontakt mit den Geschwistern unserer Wahl oder unseren tatsächlichen Geschwistern üben wir unterschiedliche Gefühlszustände:

Freude, Wut, Trauer, Liebe, Eiversucht, Angst und vieles mehr.

Etwas verbindet uns mit unseren Geschwistern. Manchmal verbindet uns mehr, manchmal weniger. Manche unter uns Geschwistern stehen sich nahe, manche gar nicht.

Manchmal trennt uns Geschwister mehr als uns verbindet.

Die einen von uns entsprechen der sogenannten «Norm» mehr. Sie gehören zur Mittelklasse, so wie ich. Haben ein Studium absolviert.

Wir sind frei von Schulden, können unsere Rechnung rechtzeitig bezahlen. Viele unter uns können sich frei bewegen, sind nicht auf Rampen angewiesen, müssen nicht darauf achten, was wir essen. Viele von uns brauchen keine Assistenz. Wenige unter uns leben in einer Unterkunft für Geflüchtete oder sind auf die Erlaubnis der Eltern angewiesen, um heute hier zu sein.

Als Soziokulturelle Aktivistin spreche in diesem Kontext von sozialen Differenzlinien. Diese Linien ziehen sich durch unser Leben. Sie trennen uns. Die einen haben es einfacher und die anderen schwieriger. Oft sehen wir diese Trennlinien, diese Unterschiede, diese Hürden nicht. Damit meine ich mich auch selbst. Wir sehen sie nicht, weil wir nicht zuhören. Weil wir zu fest mit unseren eigenen Erfahrungen beschäftigt sind. Bitte liebe Geschwister versteht mich nicht falsch. Alle unsere Erfahrungen sind berechtigt und legitim.

Es ist kein Wettbewerb.

Kimberlé Crenshaw schreibt dazu:

«Nur wenn wir die Probleme und die Nöte der am stärksten benachteiligten Menschen thematisieren, können wir die Welt dort verändern, wo es am nötigsten ist. Das Beste daran ist: Alle werden davon profitieren.»

Was uns zu Geschwistern macht, ist dass wir alle auf die eine oder andere Art und Weise schon mal belästigt wurden, oder auf Grund unserer Geschlechtsidentität erniedrigt oder entwürdigt wurden. Ob zuhause, im Pflegheim, in der Asylunterkunft, auf dem Sportplatz, im Club, oder auf dem Arbeitsplatz … Nahezu alle unter uns haben schon mal sexualisierte Gewalt erlebt. Mit dieser Form der Ausbeutung haben wir alle zu tun. Und ich spreche bewusst von Ausbeutung und nicht von Missbrauch. Denn: Als gäbe es einen zulässigen Gebrauch …

Eigentlich müssen wir zusammenhalten. Eigentlich braucht es uns alle. Eigentlich sind wir aufeinander angewiesen. Was aber meistens passiert ist, dass die Forderungen der privilegierten Mitglieder einer diskriminierten Gruppe im Zentrum stehen. Wir kämpfen für Lohngleichheit – zu Recht. Gleichzeitig kämpfen andere Geschwister am selben Ort zur selben Zeit dafür, überhaupt arbeiten zu dürfen.

Die Bedarfe und die Forderung der «Anderen» einzubinden, ist

  • zu umständlich

  • zu komplex

  • zu zeitintensiv.

Zum Beispiel wurde die Lebensrealität von Schwarzen Frauen oft falsch dargestellt.

«Eine Debatte über Rassismus, in der es um Schwarze Männer geht; ein geschlechtsspezifischer Diskurs, in dem es um weisse Frauen geht; und ein Klassendiskurs, in dem Rassismus überhaupt keinen Platz hat», das schreibt Grada Kilomba.

Es macht einen Unterschied, wen wir lieben.

Es macht einen Unterschied, ob unsere Mütter Ärztinnen oder Fabrikarbeiterinnen sind.

Es macht einen Unterschied, ob wir uns mit dem Körper, in den wir hineingeboren sind, identifizieren können und uns darin wohl fühlen oder nicht.

Es macht einen Unterschied, ob wir den geltenden Schönheitsidealen entsprechen oder nicht.

Es macht einen Unterschied, ob wir hier hin geflüchtet oder migriert sind oder nicht.

Diese Dinge strukturieren uns. Diese Dinge weisen uns einen Platz zu. Sie ordnen uns ein. Je nach dem ähneln sich unsere Anliegen (oder nicht).

Zum Beispiel geflüchtete Frauen.

Je nach Aufenthaltsstatus sind die Bedarfe und Forderungen anders:

Farhyia wünscht sich eine Perspektive in Hinblick auf Ausbildung, Arbeit und Wohnsituation.

Shirin braucht unbedingt einen Ruheraum in der Asylunterkunft.

Fatma bittet die Unterkunftsleitung, die Sozialpädagog_innen und alle Betreuer_innen seit Wochen um abschliessbare Türen zu ihrem Schlafzimmer in der Asylunterkunft.

Viele geflüchtete Frauen erzählen davon, dass sie von den Hausärzt_innen in den Asylunterkünften schikaniert werden. «Wenn es dir nicht passt, dann geh doch zurück!» Die Gesundheitsbedürfnisse werden ignoriert und die Gesundheitsprobleme verharmlost. Teilweise so lange bis die kranke Person ins Spital eingewiesen werden muss. Meistens ist bei den Arztbesuchen keine Übersetzer_in dabei.

Wenn das SEM nun mit der Deportation von hunderten ukrainischer Geflüchteten ohne ukrainischen Pass (aus sogenannten Drittstaaten) beginnt, dann müssen wir etwas tun. Die Unterscheidung zwischen Menschen aus Ländern ausserhalb von Europa und innerhalb von Europa ist eine rassistische Praxis. Menschen werden entlang ihrer Nationalität hierarchisiert und je nach dem auf- oder abgewertet. Ihnen werden dementsprechend Ressourcen und Rechte zu- oder abgesprochen. Rassismus halt.

«Feminismus ist die politische Theorie und Praxis zur Befreiung aller Frauen, nicht-binären, trans und agender Personen: Frauen of Color, Frauen der Unterschicht, armer Frauen, psychisch und/oder körperlich herausgeforderter Frauen, Lesben, alter, junger Frauen ebenso wie weisser ökonomisch privilegierter heterosexueller Frauen. Alles unter diesem Anspruch ist nicht Feminismus.» Das sagt so Dr. Eske Wollrad.

Derweil beobachte ich immer wieder, dass wir es nicht schaffen, uns zu einen. Dabei beschäftigt mich immer wieder die Frage: «Wie schaffen wir es, Räume zu gestalten, in denen die einen von Diskriminierung geschützt werden und andere gleichzeitig lernen können».

Wir stehen an unterschiedlichen Punkten in unseren Leben und die Fragen, die wir innerhalb der feministischen Bewegung anzugehen haben, sind grosse. Wir müssen dafür Räume schaffen. Es ist unsere Pflicht, Räume dafür zu schaffen. Denn wer hört uns zu, wenn wir uns selbst nicht zuhören. Wer gibt uns Platz, wenn wir uns selbst keinen Platz geben. Und wer findet für unsere Herausforderungen Lösungen, wenn wir das selbst nicht tun.

Wir müssen in einer ständigen Auseinandersetzung bleiben. Über Macht und Privilegien nachdenken, individuell und institutionell. Und wir dürfen nicht aufgeben, auch wenn es anstrengend ist.

Wir sind Geschwister. Wir dürfen uns streiten. Wir müssen uns streiten, um mehr über uns selbst und unser Gegenüber zu erfahren. Der feministische Streik am 14. Juni ist aber nicht der Ort, an dem wir uns streiten. Am 14. Juni müssen wir uns wieder daran erinnern, dass wir Geschwister sind.

Es ist Zeit, uns daran zu erinnern, was alles möglich ist, wenn wir, wie heute, Schulter an Schulter stehen. Wenn alle unsere Träume, wenn alle unsere Hoffnungen, wenn all unser Mut und die Dringlichkeit zusammenkommen.

Solidarisch zu sein bedeutet, uns gegenseitig zuzuhören. Solidarisch zu sein bedeutet, uns gegenseitig Zeit zu schenken. Solidarisch zu sein bedeutet, grösser zu denken. Solidarisch zu sein bedeutet, auf uns gegenseitig zu verweisen. Solidarisch zu sein bedeutet, uns für uns gegenseitig zu freuen. Solidarisch zu sein bedeutet, uns gegenseitig zu helfen. Solidarisch zu sein bedeutet, dem kapitalistischen Gefühl von Konkurrenz entgegenzutreten.

Wir müssen weiter voranschreiten, wir dürfen nicht stehen bleiben. Wir werden weitere Forderungen aufstellen. Weil wir nicht anders können. Denn um es in den Worten von Audre Lorde zu sagen: «solange nicht alle von uns frei sind, ist niemand von uns frei.»

Kontakt

Mandy Abou Shoak
Verantwortliche Bildung und Beratung
mandy.aboushoak@brava-ngo.ch