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«Es braucht endlich Zahlen zu Gewalt an FINTA-Personen mit Behinderung!»

Internationale Studien zeigen: FINTA-Personen mit Behinderung sind besonders oft von Gewalt betroffen. In der Schweiz werden diese Daten gar nicht erst erhoben.  Mit Simone Feuerstein sprechen wir über ein Thema, das viel zu oft viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Ein Gespräch über inklusive Massnahmen, fehlende Zahlen und Repräsentation.  

Simone, du bist proaktiv auf uns zugekommen: was ist dein Anliegen?

Ich möchte die Gesellschaft auf ein Thema sensibilisieren, das in Diskussionen oft zu kurz kommt. Nämlich das Thema Gewalt an Frauen, intergeschlechtlichen, nicht binären, trans und agender Personen (folgend FINTA) mit Behinderung. Dabei ist es mir wichtig vorauszuschicken, dass wir alle potenziell von Gewalt betroffen sein können. Gewalt kann viele Formen und Facetten annehmen und sie beschränkt sich nicht auf einzelne Kulturen oder Gesellschaften – sie ist ein globales Problem. Verschiedene Faktoren können das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden aber erhöhen. Mein Ziel ist es aufzuzeigen, wie der Faktor Behinderung dieses Risiko beeinflusst.

Weshalb sind FINTA-Personen mit Behinderung besonders gefährdet, wenn es um Geschlechtsbezogene Gewalt geht?

Viele Menschen mit Behinderung sind in ihrem Alltag auf Unterstützung angewiesen. Die daraus resultierende Abhängigkeit und das hohe Potential, dass dieses ungleiche Machtverhältnis ausgenutzt werden kann, sind grosse Risikofaktoren.

Durch die Behinderung, die praktische Unterstützung durch Andere im Leben notwendig werden lässt – bspw. in einer Institution mit vorgegebenen Strukturen als auch in einem privaten Haushalt mit persönlichen Assistenzpersonen, ist das Risko höher, überhaupt Opfer von Gewalt zu werden. Wird Gewalt ausgeübt, kann eine Behinderung die Möglichkeit sich zu wehren, vermindern. beispielsweise durch die körperlich eingeschränkte Mobilität, oder dem nicht gebrauchen können der Lautsprache. Oder aber der Übergriff wird nicht als solcher erkannt, bspw. durch eine kognitive Behinderung. Nach einem Übergriff haben Menschen mit Behinderung erschwerten Zugang zu Unterstützungsangeboten, da diese schlecht zugänglich sind. Das heisst, die Betroffenen sind oft gezwungen eine Vertrauensperson einzuweihen, damit sie die richtige Hilfe bekommen können. Dies stellt eine weitere Hürde dar.

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Internationale Studien bestätigen es: Menschen mit Behinderung haben ein grösseres Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Weshalb werden sie bei Massnahmen gegen Gewalt dennoch nicht genügend mitgedacht?  

Das ist jetzt keine fachliche, sondern eine subjektive Haltung auf Grund meiner Beobachtung. Es fehlt an politischer Repräsentation. Menschen, die nicht direkt betroffen sind, können zwar für ein Thema einstehen, aber nicht im gleichen Sinne wie Betroffene selbst. In der Schweizer Politik sind Menschen mit Behinderung untervertreten, das hat einen Einfluss darauf, wie präsent ein spezifisches Thema ist. 

Klicke hier um zu sehen, welche Menschen mit Behinderung bei den kommenden Wahlen ins Parlament gewählt werden können.

Was erschwerend hinzu kommt: Für Deutschland und Österreich gibt es Zahlen, für die Schweiz nicht. Diese Daten zur Gewaltbetroffenheit von FINTA-Personen mit Behinderung müssen unbedingt erhoben werden, denn sie bilden die Grundlage für die Arbeit zum Thema und sind ein wichtiges Argument für die Politik. Zum Glück gibt es nun ein Postulat, dass die Untersuchung der Gewaltbetroffenheit von Menschen mit Behinderung in der Schweiz fordert. Der Postulatsbericht wurde im vergangenen Juni veröffentlicht.

Ein weiterer Punkt ist der fehlende Druck aus der Öffentlichkeit. Ich glaube nicht einmal, dass es daran liegt, dass die Menschen nicht helfen wollen. Eher sehe ich eine gewisse Hilflosigkeit wenn es um das Thema Behinderung und Gewalt geht. Das Problem ist so vielschichtig und umfassend, dass man nicht klar weiss, wo man anfangen soll und dann das Handeln auf der Strecke bleibt.

Die Schweiz hat sich mit der Ratifizierung der Istanbul Konvention dazu verpflichtet mehr gegen Geschlechtsbezogene Gewalt – und besonders für marginalisierte Betroffenengruppen zu unternehmen, wo hapert es?

Es hapert an vielen Orten. Besonders beim Zugang zu Information. Es ist unglaublich wichtig, Informationen zu Unterstützungsangeboten bei Gewalt auch Menschen mit Behinderung zugänglich zu machen. Dieser Zugang muss niederschwellig sein und auf verschiedene Behinderungsformen angepasst, damit Menschen mit Behinderung eigenständig Hilfe holen können und nicht gezwungen sind weitere Menschen einzuweihen. Weiter braucht es mehr spezifisch zugeschnittene und regelmässige Sensibilisierungsarbeit zum Thema Gewalt an Menschen mit Behinderung bei all jenen, die mit Menschen mit Behinderung Berührungspunkte haben, sprich Institutionen, Assistenzpersonen, dem Personal im Gesundheitswesen, etc. aber auch bei der breiten Öffentlichkeit.

Auf was sollen Beratungsstellen achten, um Menschen mit Behinderung besser zu erreichen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden?

Ein Beispiel: Es gibt viele Beratungsstellen, die ihre Informationen in leichter Sprache auf der Webseite zur Verfügung stellen– das unterstützt auch Menschen mit Behinderung. Aber diese Informationen müssen mit einer Vorlesefunktion versehen werden – so, dass auch Menschen die blind sind oder eine Lese-Schreibschwäche Zugriff auf diese Informationen haben. Webseiten mit Vorlesefunktion, sind etwas, das einfacher umsetzbar ist. Und es würde die Inklusion voranbringen, weil viele, die jetzt ausgeschlossen sind, die Möglichkeit hätten sich über Unterstützungsangebote zu informieren.

Dann gibt es sicherlich oft bauliche Anpassungen, die gemacht werden müssen, sodass auch der physische Zugang gewährleistet werden kann. Dieses sensible Thema braucht geschützte Räume, die für alle zugänglich sind. Ein Beispiel wären hier aber auch die Frauenhäuser, die behindertengerecht ausgebaut und mit den ÖV gut erreichbar sein müssen.

Weiter müssen immer auch Telefonberatungen angeboten werden für die Betroffenen, die nicht mobil sind. Bei allen Massnahmen muss darauf geachtet werden, dass im Hinblick auf konkrete Bedürfnisse auch Schulungen stattfinden. Damit beispielsweise Menschen mit kognitiver Behinderung auch Hilfe erhalten können und das Gefühl bekommen, verstanden zu werden.

Wäre es deiner Meinung nach wünschenswert neue, spezialisierte Unterstützungsangebote zu etablieren oder sollen bestehende Angebote inklusiver gestaltet werden?

Das Thema muss in die Mitte der Gesellschaft gerückt werden und es sollen möglichst alle Bevölkerungsgruppen darauf sensibilisiert werden, sprich Fachkreise, Gesundheitswesen, aber auch Menschen, die mit dem Thema noch nicht in Berührung gekommen sind. Deshalb fände ich persönlich es zielführender bestehende Angebote inklusiver zu gestalten. Wenn sich im Laufe des Prozesses zeigt, dass spezifische Angebote nötig sind, dann sollen diese geschaffen werden. Ich denke da zum Beispiel an Präventionsprogramme, die auf verschiedene Behinderungsformen ausgerichtet werden.

Was möchtest du noch loswerden?

Mir liegt es sehr am Herzen, dass jetzt Daten erhoben werden. Sie bilden die Grundlage für die Arbeit mit verschiedenen Akteur_innen. Es ist enorm wichtig aufzuzeigen, dass diese Thematik nicht aufgeschoben werden darf und man handeln muss, da die individuellen Folgen tragisch sind. Diese wissenschaftliche Erfassung ist ebenso wichtig für eine sachliche Diskussion. Damit wir uns zusammen weiterentwickeln und in eine inklusivere Zukunft gehen. Das Thema muss in die Mitte der Gesellschaft. Wir brauchen den Austausch miteinander, wir brauchen konkrete Berührungspunkte rundum dieses Thema und wir brauchen Sensibilisierung.  

Zur Person

Simone Feuerstein ist 34, Rollstuhlfahrerin und arbeitet und lebt in Zürich. Simone kandidiert an den kommenden Nationalratswahlen für die SP Kanton Zürich. Sie ist zudem Vorständin Netzwerk Avanti (ehemals avanti donne). Avanti ist ein Netzwerk von und für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans und agender Personen, die mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit leben. Ihr Ziel ist die Gleichstellung und die diskriminierungsfreie gesellschaftliche Teilhabe aller FLINTA Personen, ungeachtet ihres Alters sowie der Art und Schwere ihrer Behinderung.

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