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«Es braucht ein grundlegendes Umdenken im Asylwesen!»

Flurina Peyer, Verantwortliche Bildung über die Zustände in Asylzentren, die «Gender-Brille» und die fehlende Anerkennung von Betreuungsarbeit.

Flurina, du leitest die Weiterbildungen für Fachpersonen aus dem Asylbereich, wer kommt an diese Weiterbildungen? 

Menschen, die in Asylzentren arbeiten, oft in der Betreuung. Beruflich haben sie dabei sehr unterschiedliche Hintergründe. Sie sind Handwerker_innen, Buchhalter_innen, Menschen mit akademischem Hintergrund. Was sicher gesagt werden kann ist, dass wenige davon ausgebildete Sozialarbeiter_innen sind. Viele sammeln  Erfahrung also on the Job. Auch haben viele von ihnen selbst eine Migrations- und/oder Fluchtgeschichte.

Sind sie verpflichtet Weiterbildungen zu Geschlechtsbezogener Gewalt zu besuchen? 

Die Betreibenden der Zentren sind verpflichtet Weiterbildungen für ihre Mitarbeitenden zu organisieren, das Thema kann von den Betreuenden aber selbst gewählt werden. Eine Weiterbildung zu Geschlechtsbezogener Gewalt ist also nicht zwingend. Das heisst, dass wir aktiv auf Betreiber_innen zugehen und das Thema etablieren müssen. Da die Weiterbildungen zu Geschlechtsbezogener Gewalt nicht für alle (inkl. Führungsebene) Pflichtprogramm sind, ist es unmöglich einen gewissen Wissens- und Sensibiliserungsstandard bezüglich Geschlechtsbezogener Gewalt in den Asylzentren zu erreichen.   

Mit welchen Anliegen kommen die Teilnehmenden zu euch?  

Im ganzen Bereich Geschlechtsbezogener Gewalt ist wenig Wissen vorhanden und wir nehmen eine grosse Ohnmacht diesem Thema gegenüber war. Fragen kommen oft dieselben. Beispielsweise wird Häusliche Gewalt auch unter den Betreuungspersonen als «private Familienangelegenheit» angeschaut. Deshalb ist es für viele schwierig abzuschätzen ob, wann und wie sie in Fällen Häuslicher Gewalt eingreifen sollen.  

Auch das Vorgehen in Fällen von sexueller Belästigung ist ihnen oft nicht klar. Die Teilnehmenden wünschen sich, dass wir ihnen konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzeigen oder Kontakte zu Fachstellen vermitteln, an die sie sich wenden können.  

Häufig wird die Weiterbildung auch als Gefäss gebraucht, in dem die Teilnehmenden über ihre Arbeit und die schwierigen Rahmenbedingungen sprechen können. Es mangelt überall an Ressourcen, die Arbeit in Asylunterkünften ist sehr belastend und wir machen die Erfahrung, dass Betreuungspersonen mit dieser belastenden Situation oft alleingelassen werden.  

Wie sind Asylzentren auf frauenspezifische Bedürfnisse ausgerichtet? 

Frauenspezifische Bedürfnisse werden eindeutig nicht prioritär behandelt. Es gibt nur wenige Strukturen für Frauen. Teilweise versuchen die Zentren Aufenthaltsräume für Frauen zu schaffen, diese werden dann aber oft durch Kinder eingenommen, weil es überall an Platz fehlt. In den wenigsten Fällen haben Frauen Räume für sich. Alleinstehende Frauen werden oft mit Familien untergebracht, was ja nicht heisst, dass sie da beispielsweise vor sexuellen Übergriffen geschützt sind. Ein weiteres Beispiel ist, dass die Kinderbetreuung nicht gewährleistet ist. Dies wäre zwingend, damit Frauen Angebote oder Termine wahrnehmen können. Das Argument der Asylzentren ist immer das fehlende Geld. Die Frage ist hier aber, wie das vorhandene Geld verteilt wird und welche Aspekte bei der Verteilung priorisiert werden. 

Was könnt ihr den Teilnehmenden mitgeben? 

Im Idealfall können wir ihnen einen Raum bieten, in dem sie sich über ihre Arbeit und das Thema Geschlechtsspezifische Gewalt austauschen können. In dem sie Unsicherheiten bezüglich dem Umgang mit gewaltbetroffenen Frauen ansprechen können und gestärkt zurück in ihren Arbeitsalltag gehen. Wir geben ihnen mit, dass es spezialisierte Fachstellen gibt an die sie sich wenden können und nicht alleine handeln sollten. Was wir ihnen unbedingt weitergeben ist  die «Genderbrille».  Sprich, dass sie Geschlecht als Kategorie in ihrem Arbeitsalltag mitdenken. Dass es beispielsweise eben darauf ankommt, ob Frauen alleine duschen können, ob ihre Zimmer abschliessbar sind, oder nicht.  

Grundsätzlich bräuchte es hier aber zusätzlich viel Arbeit auf Institutioneller Ebene. Die Verantwortlichen der Zentren müssten verpflichtet werden, ihren Mitarbeitenden Gefässe und angemessene Unterstützung zu bieten und sich selbst bezüglich Geschlechtsbezogener Gewalt weiterzubilden. Gerade haben wir von einem Fall gehört, wo es um Belästigung ging. Die Betreuungspersonen haben adäquat reagiert. Als sie den Fall jedoch an die Leitung weitergegeben haben, hat diese aufgrund mangelnder Sensibilisierung nichts unternommen. Es müssen allen Ebenen am Thema arbeiten und eine gemeinsame Haltung zu Geschlechtsbezogener Gewalt entwickeln. Das schliesst auch die Leitungsebene mit ein.

Welche Situationen ermutigen dich in deinem Arbeitsalltag? 

Ein Highlight ist sicherlich, dass in den Weiterbildungen auch immer viel gelacht wird, was damit zu tun hat, dass wir auch bewusst so unterrichten. Es ist oft ein sehr ehrlicher Austausch möglich, der viele verbindende Momente generiert. Es ist wichtig, Menschlichkeit zu vermitteln und auf Augenhöhe zu kommunizieren. Wenn man merkt, dass man einen Raum schaffen konnte, in welchem sich Menschen gehört fühlen, in welchem sie sich trauen, schwierige Situationen anzusprechen und ein professioneller Umgang mit Gewalt vermittelt werden kann, dann ist das sehr bestärkend für die eigene Arbeit.  

Was möchtest du noch loswerden? 

Etwas, was ich in den letzten Jahren beobachtet habe, ist, dass die Krise in der Betreuung und bei sozialen Berufen überall spürbar ist. Sei es im Asylbereich, in der Psychiatrie oder im Spital. Diesen Bereichen wird kein Wert zugeschrieben, obwohl es dort um Leben, um das Wohl der Menschen geht. Genau in dem Moment, in dem Menschen am verletzlichsten und auf Hilfe angewiesen sind, fehlen Ressourcen und Strukturen. Dort wo nicht mehr Wert im wirtschaftlichen Sinne generiert werden kann, wird auch nicht investiert. Das ist verheerend und beunruhigend. Je mehr Gewalt in einem System inhärent ist, desto mehr Gewalt produziert es auch. Dieses System macht Menschen kaputt. Es braucht ein grundlegendes Umdenken in diesen Bereichen und speziell im Asylbereich, sonst bleiben unsere Angebote ein Tropfen auf den heissen Stein.